Cover
Titel
Risk, Emotions, and Hospitality in the Christianization of the Baltic Rim, 1000–1300.


Autor(en)
Jezierski, Wojtek
Reihe
Early European Research
Erschienen
Turnhout 2022: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Lübke, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa - GWZO, Leipzig

Wojtek Jezierski beginnt seine Studie mit einer in der Chronik Heinrichs von Lettland überlieferten Szene (S. 20f.), die sich im Frühjahr 1205 vor den Toren Rigas abspielte und in deren Verlauf der Stadtbürger Martin angesichts eines bedrohlich vor der Stadt auftauchenden Heeres von zweitausend litauischen Reiterkriegern einem von dessen Anführern namens Svelgate zum Beleg seiner friedlichen Haltung Met zum Trinken anbietet. Das litauische Heer zieht dann in der eigentlichen Absicht, die Esten anzugreifen, zwar weiter, aber Svelgate macht seine Begleiter darauf aufmerksam, dass den „Deutschen“ bei dem Treffen vor Furcht die Hände zitterten. Da dies erst später geschieht, mithin also keine Ohrenzeugen dem noch jungen, aber damals in Riga anwesenden Chronisten Heinrich davon berichten konnten, folgert Jezierski, dass es sich um ein Phantasma handelt, das „individuell und zugleich plausibel für die Gemeinschaft eine Vorstellung offenlegt, die bedingt ist von und eingestellt auf Angst, Furcht und ein Gefühl davon, von blutrünstigen Heiden umstellt zu sein.“ Aus dieser historischen Episode und der Form der Verarbeitung in Heinrichs Chronik entstehen für den Autor die Leitfragen seiner Studie, die sich auf Missionare und Kreuzfahrer beziehen sowie auf deren interkulturelle Kontakte und alle sich daraus ergebenden Aspekte, die sich zusammengefasst im Titel wiederfinden: Risiko (wobei es genauer um Risikobewertung geht), Emotionen (und Gefühle) und Gastfreundschaft (nicht nur von Seiten der Gastgeber, sondern auch in Bezug auf das Verhalten der Gäste). Wesentliche Interpretationsansätze, die auf das „Risiko“ (Einleitung, S. 30–36) zum Tragen kommen, stammen aus der Soziologie, insbesondere aus den Studien des Münchner Soziologen Ulrich Beck.1 In Bezug auf „Emotionen“ (S. 36–40) wird die historische Emotionsforschung etwa nach der US-amerikanischen Historikerin Barbara Rosenwein2 als wegweisend benannt, während der Zugang über „Gastfreundschaft“ quellennäher am Beispiel von Äußerungen Adams von Bremen über die Hyperboräer (darunter die „Wenden“ und Schweden) erläutert wird (S. 40–43).

Den Zeitraum der Betrachtung bildet das späte 10. (beginnend mit dem Wirken des heiligen Adalbert) bis ins späte 13. Jahrhundert (Livländische Reimchronik), aber die Darstellung ist nur bedingt chronologisch, sondern mit bestimmten Erscheinungsweisen verknüpft, die wiederum Zeiträumen zugeordnet werden. Dabei gilt Kapitel (3) „Fear in Missionary and Crusader Risk Societies“ dem 10. bis 13. Jahrhundert, (4) “Spaces of Hospitality” dem 10. bis 12., (5) “Helmold of Bosau’s Chronica Slavorum” dem 12., (6) “Emotional Bonding and Trust during Sieges” dem 12. bis 13., (7) “Politics of Emotions and Empathy Walls in Livonia” und (8) “Hospitality and the Formation of Identities” dem 13. Jahrhundert. Alle diese Kapitel werden jeweils durch charakteristische historische Episoden eingeleitet und durch „Concluding Remarks“ abgeschlossen sowie die Schlüsselbegriffe Emotions, Hospitality und Risks im „Epilogue“ (Kapitel 9, S. 275–284) am Ende der Betrachtung noch einmal zusammenfassend beschrieben.

Dem Kenner der Ereignis- und politischen Geschichte mag die in den Kapitelüberschriften zutage tretende Gliederung trotz ihrer ansatzweise chronologischen Reihung erklärungsbedürftig erscheinen, sollte zugleich aber auch sein gesteigertes Interesse wecken, zumal in den Unterkapiteln überraschende Begegnungsplätze (Kitchen, Antechamber, Sauna) und -gelegenheiten (A Slavic Potlatch, Naked Lunch, La grande bouffe) aufscheinen. Den größeren geographischen (und zugleich kulturellen und historischen) Raum „Baltic Rim“ versteht Jezierski als einen „elastischen Rahmen“ jenseits der Küstenzonen der Ostsee unter Berücksichtigung der mittels des Flusssystems durch die Kiever Rus’ existierenden Handelsrouten bis zum Schwarzen Meer, der (nach Robert Bartlett) durch die drei Elemente „christliche (vor allem lateinische) Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel“ eine Transformation durchlief, die die Region in die europäische Einflusssphäre integrierte (S. 25f.). Da ihm die Informationen über die frühen Etappen der neuen christlichen Monarchien unter der Führung einheimischer politischer Eliten, die „traditionell in Verbindung mit der Staatsbildung erforscht werden“, als spärlich erscheinen, soll „das Buch auf die Evangelisierung der europäischen Nachzügler aus dem nordöstlichen Deutschland, dem Preußenland, Pommern und Livland fokussieren, bei denen der neue Glaube in einer Art Kolonisationsmode eingeführt wurde, gelegentlich allerdings unter Mitarbeit der lokalen Eliten“ (S. 27, dazu auch die Karte S. 17, aber ohne die Kiever Rus’). Dass der skandinavische Raum wenigstens in vergleichenden Ansätzen kaum Berücksichtigung findet, erscheint, zumal angesichts der akademischen Verankerung des Autors in Schweden und Norwegen, nicht ganz verständlich, ebenso wie das Übergehen des Paradebeispiels von – so zumindest aus der Sicht der zeitgenössischen christlichen Autoren – Apostasie in Gestalt der Lutizen und ihres erfolgreichen gentilreligiösen Aufstandes von 983, der erst den Raum für das Weiterleben von „Heidentum“ bei den nördlichen Elb- und Ostseeslaven bis ins 12. Jahrhundert schuf; das lutizische Kultzentrum Riedegost (Rethra) wird nur peripher erwähnt. Auch das Zusammenspiel von Missionsidee mit dem Motiv der gewaltsamen Landgewinnung, wie sie so eindrucksvoll etwa in dem Magdeburger Aufruf von 1107/1108 zum Ausdruck kommt, findet keine Beachtung. Stattdessen sieht der Autor eine „Radikalisierung der religiösen Rhetorik“ erst im Zusammenhang des Wendenkreuzzugs von 1147 (S. 190f.).

Der Verzicht darauf, „ausführlich zu sein durch das Abdecken aller Texte und Kontexte von Region und Periode“ begründet der Autor durch den „heuristischen Ehrgeiz, neue Blickwinkel zu identifizieren“ (S. 28). Solche werden tatsächlich in allen Kapiteln vielfältig aufgezeigt, beginnend mit Kapitel 2 („Baltic Frontier Societies, Peripheral Visions, and Emotional Palimpsests“), wo die Aufzählung und vergleichende Auseinandersetzung mit verschiedenen Forschungsansätzen (hier mit Nils Blomkvist3 in Bezug auf die Interpretation der Quellen) wie ein Kaleidoskop von Schlagworten anmutet: Frontier Societies, Clashes of Cultures, Intercultural Encounters, Identity Formation, Peripheral Visions, Emotional Palimpsests). Ergänzend zu diesen theoretischen Zugängen zur Interpretation des historischen Geschehens greift der Autor grundsätzlich auf einzelne Episoden der Quellen zurück. Für Kapitel 3 (und ähnlich auch in den folgenden Kapiteln) sind dies die Chroniken Adams von Bremen, Thietmars von Merseburg, Helmolds von Bosau und Heinrichs von Lettland, ergänzt durch einen längeren Einschub zu Rimberts Vita des hl. Ansgar und dessen Furchtlosigkeit sowie einen vergleichenden Blick auf Saxo Grammaticus. Später folgen Szenen aus den Lebensbeschreibungen des heiligen Adalbert, Bruns von Querfurt und Ottos von Bamberg. Als besonders aufschlussreich zeigen sich die von dem Autor herausgearbeiteten Unterschiede in der Darstellung einzelner historischer Episoden durch die verschiedenen Autoren. Einen Eindruck von der im Buch angewandten Methode der Textanalyse vermitteln auch die Abbildungen 3.1 „Gaudium, timor, terror in Henry’s Chronicon Livoniae“, die auf der Projektion der Anzahl der genannten Worte auf die Textseiten (und damit Ereignisjahre) beruht, während Abb. 3.2 „Map of Adam of Bremen’s and Helmold of Bosau’s terrae horroris“ einen in den Quellen gebrauchten Begriff auf die Landkarte projiziert. Die Abbildungen 7.1 und 7.2. zeigen die mengenmäßige Erfassung von „emotionalen Zuschreibungen“ in Bezug auf Christen und ihre Gegner in den Livländischen Chroniken an.

In Jezierskis „Epilog“ findet sich die Erkenntnis: „Civilization did not confront barbarism. Instead, men met other men and women“ (S. 283). Und tatsächlich beeindruckt seine Studie durch ein breites Spektrum innovativer Zusammenstellungen der durch die zeitgenössischen Quellen überlieferten Episoden und durch die verschiedenen Perspektiven, die eine Ahnung sowohl von den Gefühlen der mittelalterlichen christlichen Autoren als auch von der menschlichen, individuellen Seite der Begegnung von Angehörigen unterschiedlicher Kultur- und Gesellschaftsformen vermitteln. Für die Bewertung der Ereignisse, die zu Beginn des zweiten Millenniums christlicher Zeitrechnung die Ausweitung europäischer Zivilisation auf den gesamten Ostseeraum bewirkten, bildet sie eine wertvolle Ergänzung.

Anmerkungen:
1 Hier: Ulrich Beck, Risk and Society. Towards a New Modernity, Los Angeles 1992, zuerst deutsch: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.
2 Barbara Rosenwein, Anger’s Past. The Social Use of Emotion in the Middle Ages, Ithaca 1998.
3 Nils Blomkvist, The Discovery of the Baltic. The Reception of a Catholic World-System in the European North (AD 1075–1225), Leiden 2005.

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